Kann der Nebenkläger den Freispruch des Angeklagten anstreben?
Anmerkung zu einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGHs).
Beschluss vom 1.9.2020, Dritter Strafsenat des BGHs zum Aktenzeichen: 3 StR 214/20.
Problem:
Es geht um die Frage, ob die Nebenklage im deutschen Strafverfahren ihre Befugnis verliert, sich der Anklage anschliessen zu wollen, wenn sie keine Verurteilung des Angeklagten anstrebt.
Im dem Fall versuchte ein Jugendlicher, seine Pflegeeltern im Schlaf zu töten. Die Pflegeeltern schlossen sich der Anklage der Staatsanwaltschaft vor der Großen Jugendkammer des Landgerichts als Schwurgericht wegen versuchten Totschlag an.
Sie streben aber den Freispruch des Angeklagten an.
Sie waren der Meinung, der Angeklagte sei wegen seelischer Störungen im Sinne des § 20 StGB schuldunfähig.
Gegenansichten
Insoweit gibt es Meinungen in der Literatur und Rechtsprechung, die sagen, die Anschlussbefugnis des Nebenklägers oder der Nebenklägerin setze immer das Ziel einer Verurteilung voraus.
Der Nebenkläger müsse sich auf der „Überholspur“ zur Staatsanwaltschaft befinden, oder wenigstens brav hinterher fahren.
Einfach formuliert: man möchte keine Nebenkläger im Gerichtssaal haben, die sich als weitere Verteidiger des Angeklagten generieren, solche Personen müsse man die Rechte aus der Nebenklage nehmen. Im vorliegenden Fall hatten die Nebenklagevertretung für die Pflegeeltern umfangreich Anträge zugunsten des Angeklagten gestellt.
Ansicht des BGH:
Der BGH ist anderer Auffassung, und sieht auch bei dem Ziel des Nebenklägers einen Freispruch zu erzielen, keinen Grund die Rechtsbefugnisse des Nebenklägers zu entziehen.
„Nach § 397 StPO stehen Nebenklägern bestimmte Verfahrensrechte zu. Eine Begrenzung dieser Rechte mit Blick auf den verfolgten Zweck ist nicht normiert, so der BGH in dem zitierten Beschluss vom 01. September 2020: 3 StR 214/20 = BGHSt 65, 145-150.
…
„Der Gesetzeswortlaut sieht in § 80 Abs. 3 Satz 1 JGG ebenso wie in § 395 Abs. 1 StPO als Voraussetzung für die Befugnis zum Anschluss als Nebenkläger lediglich vor, durch eine dem jeweiligen Straftatenkatalog unterfallende rechtswidrige Tat – gegebenenfalls mit besonderer Opferbetroffenheit (§ 80 Abs. 3 Satz 1 JGG aE) – verletzt zu sein. Dass der Nebenkläger darüber hinaus ein bestimmtes Ziel erstreben muss oder eine zunächst berechtige Nebenklage je nach Verfahrensziel unzulässig wird, ist dem Gesetzeswortlaut nicht zu entnehmen, BGH, aaO, Rn. 6.“
…
Eine Verpflichtung des Nebenklägers, die Anklage zu vertreten und daran etwa noch ungeachtet der Erkenntnisse der Hauptverhandlung festzuhalten, ergibt sich daraus nicht, 3 StR 214/20 Randnummer 9 = BGHSt Band 65, Seiten 145-150.
Der Zweck der Nebenklage spricht gleichfalls nicht für deren Beschränkung. Der Nebenkläger soll eine umfassende, in erster Linie dem Verletztenschutz dienende Beteiligungsbefugnis im gesamten Verfahren mit der Möglichkeit erhalten, sich aktiv am Verfahren zu beteiligen, durch Erklärungen, Fragen, Anträge und gegebenenfalls Rechtsmittel auf das Verfahrensergebnis einzuwirken (BT-Drucks. 10/5305 S. 11), seine Sicht der Tat und der erlittenen Verletzungen einzubringen und seine Interessen aktiv zu vertreten (BT-Drucks. 16/3640 S. 54). In welcher Weise der (etwaig) Verletzte seine Belange am besten geschützt sieht, unterliegt infolge seiner Stellung als ein mit selbständigen Rechten ausgestatteter Prozessbeteiligter (BT-Drucks. 10/5305 S. 14) regelmäßig seiner eigenen Einschätzung, 3 StR 214/20, Randnummer 10 = BGHSt Band 65, Seiten 145-150
Die geänderte neuformulierte Vorschrift des § 20 des deutschen Strafgesetzbuchs lautet:
„Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen
Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.“